07.05.2020
Unafaham Corona?
Einen so hohen Bekanntheitsgrad wie «Corona» erreichen in Tansania höchstens Fussballstars wie Messi oder Ronaldo. Dr. med. Peter Hellmold berichtet von der Situation in Tansania.
Tansania Als ich heute Morgen aus dem Haus gehen wollte, kam Joram, unser gerade mal zwei Jahre alter Sohn, aus dem Schlafzimmer, hielt, wie üblich, seine halbvolle Nuckelflasche nur mit dem Nuckel im rechten Mundwinkel fest. Aus seiner linken Mundhälfte tönte es rhythmisch: «Corona, Corona, Corona.» Vor dem Haus traf ich einen Nachbarjungen, der etwa vier Jahre alt ist und der dort mit einem weiteren Jungen, der zwei oder drei Jahre alt sein dürfte, stand. Und ich hörte den grösseren Jungen zu dem kleineren sagen: «Unafaham Corona?» (Kennst du Corona?).
Die grösste Angst
Im Distrikt Malinyi, in dem das Lugala-Spital liegt, können etwa 60 Prozent der Bevölkerung nicht lesen. Und von jenen, die sagen, dass sie lesen und schreiben können, bringen viele mühsam ihren Vornamen in grossen Frakturbuchstaben zu Papier. Gleichwohl kennen nicht nur die Kinder, sondern vermutlich alle in dieser ländlichen Gegend des Distrikts das Wort «Corona» (von «Virus» spricht niemand). Derzeit fürchten die Menschen in Lugala wohl nichts so sehr.
Bis zu den Knien durchs Wasser
Dagegen nimmt die Bevölkerung hier die Überschwemmungen, die uns nun seit über zwei Monaten von der Aussenwelt abschnüren, mit erstaunlicher Ruhe, mit der schicksalhaften Ergebenheit und Gelassenheit gegenüber dem Unabwendbaren, dem hinreichend bekannten Fatalismus hin.
Dieses Jahr, wie zuletzt vor vier Jahren, setzte der grosse Regen ungewöhnlich früh ein. Fortan regnete es über Wochen ohne Unterlass. Das Wasser stieg und stieg, so dass beispielsweise ums Spital herum letztlich noch ein Aktionsradius von maximal 1,2 km besteht. Die in die umliegenden Dörfer führenden Pisten und Wege sind allesamt weggeschwemmt. Die Brücken wurden weg-
gerissen und die erst im letzten Jahr angelegten Drainagesysteme durch die Strömung des von allen Seiten hereinbrechenden Wassers davongetragen. Die einfachen Behausungen aus Lehmwänden mit Stroh- oder Wellblechdächern stehen im Wasser, Kinder sind ertrunken und unsere Projektmitarbeiter waten morgens bis zu den Knien durchs Wasser, um zum SolidarMed-Büro zu gelangen.
Es fehlt an Reis und Mais
Hier im Kilomberotal ist Reis das Grundnahrungsmittel. Es gibt aber keine Terrassen für Reisanbau wie in Asien. Die Menschen säen, bevor der Regen einsetzt, im tief gelegenen und weiten Flusstal den aus der letzten Ernte zurückbehaltenen Reis aus. Während der grossen Regenzeit, die etwa von Februar bis Mai dauert, wird das Tal überschwemmt und der Reis beginnt zu wachsen. In diesem Jahr setzte der Regen aber unerwartet früh ein und seither regnet es seit vielen Wochen beinahe ununterbrochen.
Somit konnte der Reis nicht mehr gesät werden. Und nicht einmal die letzte Maisernte konnte trocken eingebracht werden.
Chronisch körperlich schwach
Diese Situation wird die chronische Mangelernährung vieler Menschen verschärfen. 48 Prozent der tansanischen Bevölkerung ernährt sich einseitig nur aus Kohlenhydraten. Zusätzlich leiden viele Menschen unter Würmern und anderen Darmparasiten, was insbesondere bei Kindern und schwangeren Frauen zu Blutarmut führen kann. Krankheiten wie Malaria und Atemwegsinfekte oder akute bakterielle Darminfekte kommen hinzu. Das Resultat sind chronische körperliche Schwäche, eingeschränktes Wachstum und schlechte schulische Leistungen bei vielen Kindern.
Die Diskrepanz der Wahrnehmung von der Gefährlichkeit von «Corona» und
der katastrophalen Ernährungssituation,
die das Wohl und die Gesundheit der Menschen akut bedroht, könnte nicht grösser sein. Dass die Menschen in Armut gross geworden sind, mit ihr leben und die ihnen bekannten Krankheiten wie z. B. Malaria Teil ihres Alltags sind, dürfte zur allgemeinen Gelassenheit beitragen. «Corona» kommt als eine un-
bekannte Gefahr von aussen und wirkt bedrohlich. Ob «Corona» wirklich die grösste Herausforderung dieses Kontinents sein wird, möchte ich im Moment dahingestellt sein lassen.
■ Peter Hellmold