10.06.2022
Wohin bewegt sich SolidarMed?
SolidarMed ist 96 Jahre alt – ein beträchtliches Alter. Trotzdem wächst die Organisation jedes Jahr und entwickelt sich ständig weiter. Zeit, eine wichtige Frage zu stellen: Wohin bewegt sie sich?
Generalversammlungen bieten eine ideale Gelegenheit, einen Blick in die Vergangenheit und Zukunft einer Organisation zu werfen. Einen Rundumblick, den ein einzelner Spendenbrief oder Artikel im Mitgliedermagazin nicht leisten kann. Wer an der diesjährigen Generalversammlung von SolidarMed am 20. Mai nicht dabei war – immerhin war es der erste Hitzetag des Jahres – kann hier den aktuellen Rundumblick über SolidarMed erfahren. Er dreht sich um die Frage, wohin sich die Organisation mit ihren 96 Jahren bewegt. Dabei zeigt sich: SolidarMed erfindet sich nicht neu, aber gute Ideen hat die Organisation trotz den vielen Reisen um die Sonne allemal noch.
Das Alte bewahren
In gewisser Hinsicht will SolidarMed das Alte bewahren. Die Organisation konzentriert sich nämlich seit vielen Jahren auf die gleichen vier Kernbereiche – und will dies so beibehalten. Welche es sind, daran erinnerte an der Generalversammlung Ilse van Roy als Leiterin der Programme von SolidarMed: Der erste Kernbereich ist das Stärken der Gesundheitsversorgung und Vorsorge in den Dörfern, indem SolidarMed mit Dorfgesundheitsberater:innen zusammenarbeitet. Der zweite Kernbereich ist die Aus- und Weiterbildung von Gesundheitspersonal, um dem Mangel an gut qualifiziertem Personal in ländlichen Regionen entgegenzuwirken. Der dritte Bereich ist das Stärken der medizinischen Einrichtungen, beispielsweise durch die Reparatur von Geräten oder den Bau von Operationssälen. Und viertens will SolidarMed stets wissen, wie erfolgreich die Projekte sind, und publiziert die Ergebnisse davon.
Auch die Tradition wird bewahrt, sich dort zu engagieren, wo andere weggehen. Es sind fast immer die abgelegensten und ländlichsten Gebiete der jeweiligen Länder, wo sich SolidarMed engagiert. Dabei hat sich gezeigt: Dass die Organisation seit vielen Jahren mit den gleichen Partnern, Gesundheitseinrichtungen und Behörden zusammenarbeitet, wird von diesen sehr geschätzt.
Mit der Zeit gehen
Doch SolidarMed ist sich durchaus auch am Verändern, wie Präsident Niklaus Labhardt an der Generalversammlung aufzeigte. Denn nicht nur SolidarMed wird immer älter, sondern auch die Menschen in den Partnerländern. Daher nehmen chronische, nicht-übertragbare Krankheiten wie Bluthochdruck, Diabetes und psychische Krankheiten stark zu. Doch vielerorts fehlt es an Prävention und Behandlungsmöglichkeiten. Deshalb rücken diese Krankheiten zunehmend in den Fokus von SolidarMeds Projekten. Digitale Ansätze mittels Apps oder Textnachrichten vereinfachen dabei Diagnosen und ersparen Leuten den wiederholten weiten Weg ins Gesundheitszentrum.
Auch bezüglich der internen Strukturen will SolidarMed mit der Zeit gehen, wie Niklaus Labhardt betonte. Beispielsweise bleibt die Dekolonisierung der Entwicklungszusammenarbeit auch für SolidarMed ein Thema. Es stellt sich die Frage: Wie viel Entscheidungsmacht sollen die Partnerländer haben, und wie viel soll von der Schweiz aus gesteuert werden? Niklaus Labhardt fand an der Generalversammlung: Solange die meisten Geldgeber:innen aus der Schweiz stammen, bleibt die Geschäftsstelle in Luzern eine wichtige Vermittlerin zwischen Nord und Süd. Der Prozess, die Entwicklung der Projekte mehr und mehr zu dezentralisieren, hat aber bereits begonnen. Davon zeugen die Landeskoordinator:innen von SolidarMed, die ebenfalls an der Generalversammlung teilnahmen. Im Unterschied zu früher stammen sie grösstenteils aus den Ländern selbst und sind keine europäischen Expats. Dennoch ist der Prozess noch nicht abgeschlossen, sondern wird SolidarMed noch mehrere Jahre beschäftigen.
Den Herausforderungen trotzen
Bis hierhin zeigt sich also: SolidarMed ist zwar alt, aber nur dort starr, wo es sich bewährt hat. Parallel dazu gibt es Bereiche, die mehr Aufmerksamkeit verdienen und solche, bei denen die Entscheidungsmacht zunehmend anderen Leuten abgegeben soll. Dabei befindet sich die Organisation nicht in einem Vakuum. Das Umfeld entwickelt sich ständig weiter, die politische Lage war gerade in den letzten zwei Jahren alles andere als einfach, wie Geschäftsleiter Jochen Ehmer betonte. Er erinnerte daran, dass die Gesundheitssysteme der Partnerländer weiterhin geschwächt sind durch die Covid-19-Pandemie, dass die politische Instabilität vielerorts zugenommen hat, dass gleichzeitig die Bevölkerung weiter anwächst und der Klimawandel vermehrt zu verheerenden Dürren und Überschwemmungen führt. Die Situation in den Partnerländern ist entsprechend komplex, unbeständig und unsicher.
Umso wichtiger also, hoffnungsvoll und positiv zu bleiben. Jochen Ehmer zufolge kann man das, indem man die Erfolge im Grossen und Kleinen sieht und anerkennt. Er betonte, dass sich die Kindersterblichkeit seit 1990 mehr als halbiert hat und dass 75 % aller HIV-infizierten Menschen heute Zugang zu Medikamenten erhalten. Und auch im Kleinen gibt es Erfolge: Beispielsweise weihte SolidarMed im vergangenen Jahr einen neuen Operationssaal in Nordmosambik ein. Dass er trotz der dortigen prekären politischen Situation gebaut und eröffnet werden konnte, ist sehr erfreulich. Und manchmal reicht sogar ein verhältnismässig kleiner Beitrag, um viel zu bewirken, wie Programmleiterin Ilse van Roy erwähnte. So konnte SolidarMed im letzten Jahr mit nur CHF 50'000 im Gesundheitszentrum in Samu in Simbabwe sowohl neue Personalwohnungen bauen, das Mütterwartehaus renovieren und elektrifizieren als auch sanitäre Anlagen bauen und einen Wartebereich für Patient:innen errichten.
Alleine geht es nicht
Weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft kann sich SolidarMed solche Verdienste allein zuschreiben. Das kam an verschiedenen Stellen der Generalversammlung zum Vorschein. So sind es neben den rund 80 Teilnehmer:innen der Versammlung rund 10'000 weitere Privatpersonen, die SolidarMed im vergangenen Jahr unterstützten. Dazu kamen 53 Stiftungen und 29 Kantone, Städte oder Gemeinden. Weiterhin unterstützt die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA mit ihrem Programmbeitrag die Organisation; sie stellt etwa einen Drittel aller Beiträge zur Verfügung.
Unabhängig davon, wohin sich SolidarMed bewegt, die Organisation tut es nicht ohne Begleitung und Unterstützung. Ruth Ospelt-Niepelt war seit 2013 im Vorstand und als Vizepräsidentin eine grosse Unterstützung von Präsident Niklaus Labhardt, auch mit ihren wichtigen Verbindungen in Liechtenstein. Gregor Stadler war ab 2006 für etwas mehr als ein Jahr als Unterassistent in Simbabwe und dann ab 2013 im Vorstand. Seine Erfahrung als Praktiker hat er aktiv in den Vorstand eingebracht. Bereits eine zweite Amtsperiode hat Markus Frei hinter sich, erst ab 1991 und zuletzt seit 2016. Die Veränderungen der Entwicklungszusammenarbeit von SolidarMed der letzten 40 Jahre hat er stark mitgeprägt (siehe Fokus Mai-Ausgabe). Die drei stellten sich an der Generalversammlung nicht mehr zur Wiederwahl. So dankte Präsident Niklaus Labhardt ihnen herzlich für ihre langjährigen und wirkungsvollen Einsätze und überreichte Geschenke und Blumen.
Und jetzt?
In vier Jahren wird SolidarMed den hundertsten Geburtstag feiern. Er wird Gelegenheit bieten, einen noch grösseren Rundumblick zu werfen und intensiver zu diskutieren, wohin es gehen soll. Wer bereits vorher in Austausch mit SolidarMed kommen möchte, ist herzlich ans diesjährige Sommerfest eingeladen.